Ein neues Kapitel beginnt
Grading braucht den Menschen
08 September 2025
Trotz Job-Katalog und KI in der Funktionsbewertung – bei Grenzfällen bleibt die menschliche Beurteilung weiter gefragt. Ein Gespräch mit den Mercer-Experten Carsten Schlichting und David Voggeser zu aktuellen Entwicklungen in der Funktionsbewertung.
Man hört immer wieder, dass sich die Bewertungen für ähnliche Funktionen zwischen Geschäftsbereichen und Ländern unterscheiden. Mit der Funktionsbewertung wird doch für Objektivität und Vergleichbarkeit gesorgt?
Carsten Schlichting: Selbst analytische Funktionsbewertung ist kein Messen, sondern kriteriengestütztes Vergleichen. Die Verfahren sind keine geeichten Waagen, die überall auf der Welt identische Ergebnisse erzeugen, sondern Beurteilungsinstrumente in den Händen von Menschen.
Welche Ursachen für „Messfehler“ gibt es?
David Voggeser: Zunächst enthalten alle Verfahren Beschreibungen zu den Bewertungskriterien und -stufen, und Worte sind nun einmal interpretierbar. Hinzu kommt, dass Übersetzungen in viele Sprachen existieren – und jede Übersetzung ist bereits eine Interpretation des ursprünglich Gemeinten.
Carsten Schlichting: Hinzu kommt, dass Bewertungen häufig von vielen Personen vorgenommen werden. Diese sind unterschiedlich gut ausgebildet und erfahren.
Eine gute Ausbildung und viel Erfahrung sind also das A & O für konsistente Bewertungen?
Carsten Schlichting: Ohne eine entsprechende Ausbildung sollte niemand ein Bewertungsverfahren angehen. Hier braucht es nach unserer Erfahrung initial mindestens zwei Tage Schulung mit Theorie und Übungen – und dann fortlaufend die Abstimmung zu den entsprechenden Leitplanken und Sonderfällen im Unternehmen.
“Grading braucht Ausbildung, Erfahrung, Peer-Dialog und Benchmarks. Die Bewertung einer Funktion lässt sich nicht nach zwei Tagen Schulung vornehmen und nur bedingt über eine Datenbank abbilden.”
David Voggeser: In der Tat, ebenso wichtig wie Grundlagenwissen sind praktische Erfahrungen und der fortwährende Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen Bewertungsvorschläge diskutieren werden. Die am häufigsten von Kunden gestellte Frage ist „Wie ist diese Funktion bei vergleichbaren Unternehmen bewertet?“. Und dieses Wissen gewinnt man nicht in zwei Tagen Schulung. Auch lässt sich eine Bewertung nur bedingt über eine Datenbank abbilden.
Ist dann ein Bewertungsnetzwerk die Lösung? Wie viele Bewertungsexperten sollte es in einem Unternehmen geben?
David Voggeser: Hier ist eine Unterscheidung erforderlich: Bei Stellen unterhalb des Managements, in Deutschland Stellen im Tarif, ist die Perspektive meist landes- und branchenbezogen. Da braucht es kaum internationalen Austausch, sondern eine Kommunikation der relevanten Expertinnen und Experten an den Standorten zu Bewertungen von Richtpositionen. Deren Ergebnisse sind dann der Anker für weitere Bewertungen.
Carsten Schlichting: Als Maxime gilt: Lieber weniger Personen häufiger Bewertungen durchführen lassen als viele, die das nur zwei bis drei Mal im Jahr machen.
Lässt sich die Dimensionierung konkreter fassen?
Carsten Schlichting: Bei einem Produktionsstandort mit 1.000 Beschäftigten sollte ein Bewertungsexperte vorhanden sein, der sich aber neben dieser Aufgabe zum Beispiel auch mit anderen Vergütungsfragen beschäftigen kann.
Sieht das Thema im AT-Bereichs und Management völlig anders aus?
David Voggeser: Die Methodik ist grundsätzlich dieselbe. Der Unterschied besteht aber darin, dass die Dimension - in den Bewertungen vergleichbar sein müssten - immer größer werden.
Wie breit wird denn die Perspektive, bis zu 360°?
David Voggeser: Wir machen das immer mit Kreisen deutlich, deren Radius immer größer wird: Zunächst müssen die Bewertungen an einem Standort konsistent sein, dann auch in den verschiedenen Business Units in einem Land, und auch über Ländergrenzen hinweg im gesamten Konzern.
Carsten Schlichting: … und schließlich noch unternehmensübergreifend im Markt; außerdem werden für Management-Funktionen noch Quervergleiche in Job Families erwartet. Daran sieht man, dass dieser Anspruch in größeren Unternehmen fast eine Quadratur des Kreises ist.
Wäre es nicht eine Lösung, die Bewertung weltweit einem einzigen externen Beratungsunternehmen zu übergeben?
Carsten Schlichting: Leider nicht, obwohl die Verwendung derselben Methode schon ein sehr wichtiger Schritt ist. Aus Erfahrung als langjährig für dieses Thema in einem großen Unternehmen Verantwortlicher weiß ich, dass lokale Bewertungen in unterschiedlichen Ländern durch dasselbe Beratungsunternehmen durchaus zu deutlichen Abweichungen führen können.
Woran liegt das?
Carsten Schlichting: Das liegt vor allem daran, dass sich die einzelnen Business Units und Länder als deutlich unabhängiger darstellen, als sie es tatsächlich sind. Der Einfluss der Zentrale wird oft verschwiegen oder abgewertet.
Warum das?
David Voggeser: Man darf nicht vergessen, dass Funktionsbewertungen letztlich über Vergütung entscheiden, und damit sind immer auch starke Interessen im Spiel. Je höher Stellen angesiedelt sind, desto mächtiger sind deren Inhaber, die ja schließlich den Berater beauftragen. Und der lokale Berater muss die zur Verfügung gestellten Informationen und Aussagen auch als korrekt annehmen.
Was empfehlen Sie Unternehmen in dieser Frage?
David Voggeser: Die Governance für die Funktionsbewertung auf den obersten ein bis drei Ebenen – je nach Größe des Unternehmens – sowie auf jeden Fall der ersten Ebene in den Auslandsgesellschaften sollte im Corporate Center angesiedelt sein. Damit hat man die Richtwerte in allen Einheiten weltweit im Blick.
Carsten Schlichting: In den Ländern und in den Business Units sollte es zudem ausgebildete Personen geben, die sich regelmäßig mit dem zentralen CoE austauschen, das damit als Know-how-Träger und -Verbreiter wirkt.
David Voggeser: Die weltweit durchgeführten Bewertungen sollten außerdem in einer Datenbank abgelegt sein, auf die dieser Kreis Zugriff hat. Wir erleben häufig, dass Bewertungen und deren Begründungen nicht ausreichend dokumentiert werden. Aber diese sollten mindestens für Zweifelsfälle festgehalten werden samt Erläuterung, wie man sie verstanden und bewertungstechnisch umgesetzt hat.
Carsten Schlichting: Das ist zweifelsohne mühsam und geschieht auch deshalb zu selten. So bleibt dieses Wissen in den Köpfen der handelnden Personen und verschwindet, wenn diese den Aufgabenbereich oder das Unternehmen verlassen.
Funktionsbewertung wird bei Zweifelsfällen spannend. Genau an diesen Stellen braucht es menschliches Beurteilungsvermögen. Das kann keine KI.
Ließe sich der menschliche Faktor durch den Rückgriff auf KI-Lösungen reduzieren oder gar eliminieren?
David Voggeser: Ein interessanter Gedanke, und KI wird viele Aufgaben im Grading übernehmen. Schon heute matched bei Mercer eine KI die Funktionen unserem Mercer-Job Katalog zu und gibt somit eine Grading-Indikation Die Feindifferenzierung wird aber noch lange durch erfahrene Berater durchgeführt werden. Für Funktionen im TopExecutive- und Management-Bereich ist darüber hinaus oft eine Diskussion mit der Geschäftsführung über strategische Prioritäten und Verantwortungsallokation innerhalb des Unternehmens zu führen. Das kann keine KI.
Carsten Schlichting: Da aber Funktionsbewertung immer dann spannend wird, wenn es um Zweifelsfälle geht, wird genau an diesen Stellen bis auf weiteres menschliches Beurteilungsvermögen gefordert sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Executive Principal Strategic People Advisory
Partner Strategic People Advisory