Arbeit neu denken: KI und die Transformation der Arbeitswelt 

Um aus den Verheißungen des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz Kapital zu schlagen, müssen Führungskräfte Arbeitsplätze und Prozesse dekonstruieren, Arbeit umverteilen und neue Arbeitsweisen entwickeln. Ein Gespräch mit den Mercer Experten Ravin Jesuthasan und Kai Anderson.

Mr. Jesuthasan, Herr Anderson, was ist aus Ihrer Sicht der erste wichtigste Schritt, wenn Unternehmen moderne Technologien – und hier insbesondere Künstliche Intelligenz - in ihre Arbeitsprozesse integrieren möchten?

Ravin Jesuthasan: Nachdem Manager und Experten lange mit viel Euphorie auf generative KI-Anwendungen geschaut haben, setzt mittlerweile Ernüchterung ein. Wie so oft überschätzen wir den kurzfristigen Effekt und unterschätzen das langfristige Potenzial einer Technologie. Dieses Potenzial heben wir allerdings nur, wenn wir uns vom Gedanken KI sei ’just another tool’ verabschieden.

Wie das: Ist KI kein Technologie-Thema?

Kai Anderson: KI ist eine bahnbrechende Technologie, die allerdings nur in der richtigen Kombination mit menschlicher Arbeit ihre Wirkung entfalten wird. Insofern braucht es zuerst eine inhaltliche Auseinandersetzung.

… und Klarheit über die Ziele?

Ravin Jesuthasan: Unternehmen agieren oft Technologie-getrieben und fragen sich, was eine bestimmte Lösung leisten kann. Aber das ist die falsche Sicht. Die Fragen sollten lieber lauten: "Welche Arbeiten werden gerade getan bzw. sollten getan werden und wie kann Technologie hier unterstützen, indem sie bislang nicht bedachte oder für möglich erachtete Pfade eröffnet?“

Kai Anderson: Man muss Arbeit zunächst in ihre einzelnen Aufgaben zerlegen und analysieren, welche Aufgaben KI ersetzen kann, welche sie unterstützen und wo sie neue Möglichkeiten schaffen kann.

Ravin Jesuthasan: Das klingt einfach, ist aber in der Praxis herausfordernd. Unternehmen müssen lernen, von Aufgaben und Fähigkeiten aus zu denken – nicht von Jobs. Ein Beispiel aus der Praxis hilft vielleicht: In vielen Unternehmen sind Compliance-Mitarbeitende stark mit standardisierten Reportings beschäftigt. Diese Berichte sind wichtig, aber die zugrunde liegenden Aufgaben folgen klaren Mustern und umfassen in der Regel sich wiederholende, regelbasierte Überprüfungsprozesse.

Kai Anderson: Genau hier liegt ein hohes Potenzial. Mithilfe von KI lassen sich diese repetitiven Aufgaben weitgehend automatisieren – etwa durch Systeme, die automatisch Daten analysieren, Abweichungen markieren und Berichte vorbereiten. Die Compliance-Fachkraft überprüft dann nur noch die kritischen Fälle, entwickelt Risikobewertungen und unterstützt strategische Entscheidungen. So wird nicht nur Effizienz geschaffen – die Rolle gewinnt an Bedeutung.

Ravin Jesuthasan: Das zeigt exemplarisch, wie durch die Kombination von Technologieeinsatz und neuer Arbeitsverteilung nicht nur Kosten gesenkt, sondern auch qualitativ hochwertigere Arbeit ermöglicht wird. Und genau das ist unser Ziel: Arbeit neu zu denken – sinnvoll, effizient und zukunftsfähig.

Das klingt einfach, dürfte aber alles andere als das sein?

Ravin Jesuthasan: In der Tat, auch wenn der geschäftliche Nutzen der Zerlegung und Neugestaltung von Arbeit auf der Hand liegt, tun sich viele Unternehmen schwer damit, historisch gewachsene, starre Jobs und die damit verbundenen Denk- und Arbeitsweisen zu überwinden. Nur durch Dekonstruktion, Umschichtung und Rekonstruktion kann Arbeit sinnvoll umverteilt werden - zwischen Menschen, Maschinen oder beiden.

Wie reagieren Ihre Kunden in Beratungsprojekten auf diese Intervention?

Kai Anderson: Am Anfang begegnen uns oft sehr hohe Erwartungen an KI – viele hoffen auf schnelle, durchschlagende Effekte. Schon in der Vergangenheit war es meist so, dass Unternehmen Technologien einführen, ohne zuvor ihre Arbeitsweisen grundlegend zu hinterfragen oder anzupassen. Wenn sich dann die erhofften Ergebnisse nicht einstellen, ist die Enttäuschung groß. Doch genau an diesem Punkt wird oft deutlich, worauf es wirklich ankommt: Nicht die Technologie steht am Anfang, sondern das Verständnis von Arbeit – erst wenn diese klar strukturiert und neu gedacht wird, kann KI ihr volles Potenzial entfalten.

Ravin Jesuthasan: Wichtig ist zudem, immer das große Ganze im Blick zu behalten, sprich: den gesamten Prozess, end-to-end, mit allen Beteiligten und den relevanten Technologien.

Können Sie das näher erläutern?

Ravin Jesuthasan: Viele Entscheidungsträger in Unternehmen sehen in der generativen KI nur ein Werkzeug. Ihr wahrer Wert zeigt sich jedoch im Kontext der spezifischen Anwendung, wie sie sich auf verschiedene Interessengruppen auswirkt und von ihnen beeinflusst wird und wie sie sich mit anderen Technologien wie der robotergestützten Prozessautomatisierung und dem maschinellen Lernen verbinden lässt. In dieser Kombination liegt das Geheimnis, um die volle Wirkung zu entfalten.

Kai Anderson: Das zeigt auch, dass Unternehmen menschliche Arbeit und Technologie zusammen denken müssen.

Die logische Frage ist: Welche Fähigkeiten braucht es für das veränderte, neue Aufgabenspektrum?

Kai Anderson: Hier zeigt die Erfahrung: Nicht immer sind diese Skills bei den bisherigen Rolleninhabern zu verorten. Manchmal lohnt es sich, Aufgaben neu zuzuordnen – etwa an Nachwuchskräfte oder an internationale Teams.

KI, erst recht in der beschriebenen integrierten Einbettung in das große Ganze setzt Ressourcen frei. Was passiert mit frei gewordenen Kapazitäten?

Kai Anderson: Dieser Aspekt zählt zu den Überlegungen im Vorfeld des Einsatzes von KI, zumal sich schnell viele neue, bislang nicht gesehene Betätigungsfelder ergeben. Im besten Fall erhalten gerade erfahrene Mitarbeitende Raum für die Bearbeitung strategischer Aufgaben, service-orientiertere Kundenkommunikation und gezieltere Kundengewinnung. Die Effektivitäts-Gewinne sind in der Regel signifikant. Sie können mindestens so groß ausfallen wie die Einsparungen durch die Automatisierung.

Was braucht es, damit solche Potenziale nachhaltig gehoben werden können?

Ravin Jesuthasan: Ganz klar: Arbeitsgestaltung muss zu einer zentrale Fähigkeit der Organisation werden. Es reicht nicht, einzelne Projekte umzusetzen. Es braucht ein Zusammenspiel aller Bereiche – von der Geschäftsführung über IT bis hin zur HR. Nur wenn man immer wieder fragt: Welche Arbeit muss wirklich getan werden?, bleibt man auch in Zukunft anpassungsfähig – gerade bei der rasanten Entwicklung der KI.

Also eine ständige Überprüfung des eigenen Tuns?

Kai Anderson: Ja, genau das – und das ist nichts Neues. Wir müssen es nur aussprechen und mit Irrglauben aufräumen: Einmal Technologie installiert und alles läuft und ist gut. Nein, jetzt wird es vielmehr erst richtig spannend mit Blick auf die kontinuierliche Verbesserung des KI-Einsatzes – nach den Einsparungen kommen die echten Leistungssteigerungen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterlesen:

Want AI-Driven Productivity? Redesign Work – MIT SLOAN Management Review, Ravin Jesuthasan, May 01, 2025: 

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Verändern Sie die Art und Weise, wie Ihr Unternehmen Mitarbeitende rekrutiert, einstellt, weiterbildet und bindet.
Über den/die Autor:in(nen)
Kai Anderson

International Workforce & Organization Transformation Leader, Mercer

Ravin Jesuthasan

Senior Partner, Global Transformation Services Leader, Mercer

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