Unsicherheit bei der weiteren Entwicklung der Lebenserwartung 

09 August 2023

Sinkt die Lebenserwartung oder steigt sie – wer hat recht?

Im Juli haben wir ein Webcast unter dem Titel „Corona, Hitze, Diabetes: Wohin geht die Sterblichkeit?“ durchgeführt. Falls Sie es verpasst haben: Die Aufzeichnung können Sie sich auch nachträglich noch ansehen.

Kurz danach gab es Veröffentlichungen des GDV und des Statistischen Bundesamtes zum gleichen Thema. Teilweise erschienen die Aussagen widersprüchlich. Wer hat nun recht?

Zusammenfassung unseres Webcasts

Anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes haben wir gezeigt, dass die Sterblichkeit sich bis vor wenigen Jahren kontinuierlich und deutlich verbessert hat. Diese Verbesserungen schienen sich zuletzt abzuschwächen – und dann kam Corona.

Covid-19 hat sich als Rauschen über die Daten gelegt. Inklusive aller Covid-19-Todesfälle ist die Sterblichkeit seit 2019 kontinuierlich gestiegen. Rechnen wir die Covid-19-Todesfälle dagegen heraus, hat sich die Sterblichkeit bis 2021 verbessert, ist dann aber 2022 wieder angestiegen.

Daher ist es schwierig zu beurteilen, ob wir uns bereits in einer Trendwende befinden.

Der Blick auf die Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes ist zwar interessant, die Daten sind aber nicht zuverlässig genug, um daraus Schlussfolgerungen für die weitere Entwicklung zu ziehen.

Covid-19 selbst wird uns allerdings dauerhaft als relativ neue Todesursache erhalten bleiben und könnte nach ersten Schätzungen die Sterblichkeit dauerhaft um zwei Prozent erhöhen (als Einmaleffekt, nicht als Trend, also nicht jedes Jahr zwei Prozent).

Auch die Klimakrise kann die Sterblichkeit dauerhaft erhöhen. Naheliegend sind zusätzliche Todesfälle wegen einer Zunahme von Hitzetagen. Allerdings zeigte eine Abschätzung anhand der Szenarien des Weltklimarates und der Klimawirkungs- und Risikoanalyse für Deutschland 2021, dass die daraus resultierende Zunahme der Sterblichkeit eher gering ist. Andere Effekte der Klimakrise können die Sterblichkeit ebenfalls erhöhen, lassen sich aber nur schwer abschätzen. Daneben gibt es auch gegenläufige Effekte, z. B. weniger Todesfälle in den zukünftig wärmeren Wintern.

Insgesamt besteht aber Anlass zu der Vermutung, dass eine Trendänderung bevorsteht oder sogar bereits begonnen hat. Belegen lässt sich das derzeit nicht.

Einschätzung des GDV

Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft GDV bezieht sich in seinem kürzlich veröffentlichten Artikel auf eine Studie der Swiss Re. Auch andere Medien haben diese Studie aufgegriffen. Danach ist weiterhin mit einer Zunahme der Lebenserwartung zu rechnen.

Die Studie der Swiss Re weist zu Recht darauf hin, dass für eine Fortschreibung der Lebenserwartung nicht nur Daten der Vergangenheit, sondern auch zu erwartende Entwicklungen berücksichtigt werden müssen. So rechnet die Swiss Re beispielsweise mit weiteren deutlichen Verbesserungen bei der Behandlung von Krebs, was sich wegen der Bedeutung dieser Todesursache positiv auf die Lebenserwartung auswirken würde.

Die Studie betrachtet die Lebenserwartung global, Deutschland wird nicht explizit erwähnt. Viele der genannten Aspekte werden aber auch für Deutschland zutreffen.

Allerdings ist zu beachten, dass eine Fortschreibung einzelner Todesursachen nicht unbedingt zu einer genaueren Vorhersage führt. Die Verringerung der Zahl der Sterbefälle bei einer Todesursache kann durch eine Zunahme anderer Todesursachen kompensiert werden.

Deutlich wird die Unsicherheit wiederum an Covid-19: Vor 2020 gab es diese Todesursache noch gar nicht, im Jahr 2021 hatte sie Platz 3 der Todesursachen mit einem Anteil von immerhin 7 % erreicht.

Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes

Die jährlichen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes werden regelmäßig von der Presse aufgegriffen. Dieses Jahr lautete die Schlagzeile: „Lebenserwartung während der Pandemie um 0,6 Jahre gesunken“.

Auf den ersten Blick scheint das unsere These aus dem Webcast zu bestätigen. Allerdings sind die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes reine Momentaufnahmen. Die Lebenserwartung nach den jeweiligen Sterbetafeln unterstellt gleichbleibende Verhältnisse für die gesamte Zukunft.

Aktuell heißt das: Für die Berechnung der Lebenserwartung von Neugeborenen werden Pandemieverhältnisse bis zum Lebensende unterstellt. Das wird hoffentlich nicht eintreten!

Fazit: Unsicherheit bei der Lebenserwartung

Die weitere Entwicklung der Lebenserwartung ist vor allem durch Unsicherheit geprägt. In der Pandemie ist die Sterblichkeit höher gewesen als vor der Pandemie (Statistisches Bundesamt). Jetzt steht möglicherweise eine Trendwende an (Mercer). Langfristig ist es aber auch möglich, dass die Lebenserwartung weiter ansteigt (Swiss Re).

Für die versicherungsmathematischen Bewertungen können Sie die bisherigen Sterbetafeln jedenfalls beibehalten. Sie stellen weiterhin die bestmögliche Schätzung im Sinne von IAS 19 bzw. die vernünftige kaufmännische Beurteilung nach HGB dar – einfach weil wir keine besseren Erkenntnisse haben. Die weitere Entwicklung muss aber beobachtet werden.

 

Für die Jahresgutachten können die bisherigen Sterbetafeln weiter genutzt werden.
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