BAG zur Ausscheidensvoraussetzung bei Invalidität
08 Oktober 2021
„Ausgeschieden“ – nicht immer freut man sich, wenn man dies erlebt oder über sich hört. Wenn es aber nach dem Erwerbsleben zum Anspruch auf eine Rente führt, nimmt man das Ausscheiden vermutlich gerne in Kauf. Wird das Ausscheiden aus dem Unternehmen oder Erwerbsleben zudem sogar als Voraussetzung für die Gewährung einer betrieblichen Versorgungsleistung in einer Versorgungsordnung vorgeschrieben, kommt es allerdings häufig zu Auslegungs- und Anwendungsproblemen – insbesondere bei betrieblichen Invalidenleistungen.
Diese werden meist an das Bestehen einer Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung gekoppelt. Die Rentenbescheide des gesetzlichen Rentenversicherungsträgers weisen das Vorliegen der Erwerbsminderung in der Regel rückwirkend aus und sehen dann auch für den Rentenbeginn einen rückwirkenden Zeitpunkt vor.
Damit sind die Voraussetzungen für die betriebliche Invalidenleistung oftmals auch erst rückwirkend erfüllt und eine rückwirkende Nachzahlung ist erforderlich. Ob diese Rückwirkung auch greift, wenn die Versorgungszusage das Ausscheiden aus dem Unternehmen als Leistungsvoraussetzung vorsieht, ist dabei in vielen Fällen unklar. Da während des Antrags auf gesetzliche Erwerbsminderungsrenten das Arbeitsverhältnis meist nur ruhend gestellt aber nicht vollständig beendet wird, stellt sich die Frage, ob der Arbeitgeber rückwirkend die Versorgungsleistung zu zahlen hat, obwohl das Arbeitsverhältnis weiterbestand.
Der vom Bundesarbeitsgericht (BAG) und Rechtsberatern gerne verwendete Hinweis, wonach der jeweilige Einzelfall stets gesondert zu betrachten sei, ist bei der Frage, ob eine betriebliche Invalidenleistung rückwirkend zu gewähren ist, keine bloße Floskel, sondern stets zu beachten. Denn je nach Formulierung der Voraussetzungen in der VO, den Feststellungen im Rentenbescheid und der parallel erfolgenden Änderung im Arbeitsvertrag sowie bei der Entgeltabrechnung, die oft zudem rückwirkend erfolgen, ist jeder Fall individuell also tatsächlich als Einzelfall zu behandeln.
Das zeigt sich auch beim Anblick der im Jahr 2021 vom BAG zu betrieblichen Invalidenleistungen ergangenen Entscheidungen, die je nach Sachverhalt anders urteilten – wobei eine neue vom BAG verfolgte Richtung klar zu erkennen ist.
Dem Ausscheiden aus dem Unternehmen kann zukünftig für die Gewährung betrieblicher Invalidenleistung kaum noch Bedeutung zukommen.
BAG vom 23.03.2021, 3 AZR 99/20, zu „Ausscheiden aus dem Unternehmen“
Begonnen hat diese Klarstellung des BAG mit seinem bislang wenig beachteten Urteil vom 23.03.2021, 3 AZR 99/20, das jedoch zumindest bei Versorgungszusagen für eine rechtsklare Auslegung sorgt, in denen das „Ausscheiden aus dem Unternehmen“ allgemeine Leistungsvoraussetzung ist oder besondere Leistungsvoraussetzung für den Bezug einer betrieblichen Invalidenleistung.
Das BAG entschied, dass dem Anspruch auf Zahlung einer Erwerbsminderungsrente nicht entgegensteht, „dass das Arbeitsverhältnis der Parteien im streitgegenständlichen Zeitraum nicht rechtlich beendet war.“ Das ergebe „sich bereits aus der Auslegung der Regelung …. jedenfalls aber aus der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB“.
Unter „Ausscheiden“ könnte nach Auffassung des BAG sowohl das „Ausscheiden im Sinne einer rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ gemeint sein aber auch „das faktisch tatsächliche Ausscheiden im Sinne eines Ruhens der beiderseitigen Hauptleistungspflichten nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraums von sechs Wochen bis hin zum sog. Aussteuern i.S.v. § 48 SGB V“. Das BAG führt aus, dass die „Ausscheidensklauseln in Versorgungszusagen … jedenfalls bei betrieblichen Invaliditätsversorgungen den Sinn“ habe „sicherzustellen, dass nicht gleichzeitig Ansprüche auf Arbeitsvergütung einerseits und Ruhegeld andererseits entstehen“. Solche Doppelansprüche seien „indes nicht nur ausgeschlossen, wenn das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet ist, sondern schon dann, wenn es für die Dauer des Bezugs der Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente ruht.“ Im konkreten Fall bejahte das BAG nach eingehender Auslegung der Versorgungsordnung, dass Ausscheiden aus dem Unternehmen nicht die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraussetze, sondern das Ruhendstellen des Arbeitsverhältnisses genügt.
Auf die Anwendung der Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB kam es in diesem Fall gar nicht mehr an. Gleichwohl würde deren Anwendung, sofern diese – anders als bei Betriebsvereinbarungen – bei Gesamtzusagen greifen würde, zu dem meist eindeutigen Ergebnis führen, dass das faktische Ausscheiden ebenfalls zur Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen ausreicht, wenn dieses genauso vertretbar aus der Auslegung der Versorgungsregelung gefolgert werden kann, wie auch das rechtliche Ausscheiden im Sinne einer rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Da in diesem Fall keine der beiden möglichen Auslegungen eindeutig vorzuziehen ist, wären nach § 305c BGB beide Auslegungsergebnisse vertretbar. Dies führt nach § 305c Abs. 2 BGB dazu, dass das tatsächlich faktische Ausscheiden genügt, um einen Anspruch auf betriebliche Invalidenrente zu begründen.
BAG vom 13.07.2021, 3 AZR 298/20, zu „Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses“
In einem wenige Monate später ergangenen Urteil des BAG vom 13.07.2021, 3 AZR 298/20, kam es dagegen auf die Anwendung der §§ 305 ff BGB an. Die nicht durch Betriebsvereinbarung zugesagte Versorgungsregelung wurde als Allgemeine Geschäftsbedingung i.S.d. BGB eingeordnet, was vom BAG in ständiger Rechtsprechung angenommen wird, wenn bei einer Vielzahl von vorformulierten Verträgen den Versorgungsberechtigten ohne Verhandlungsmöglichkeit eine Versorgungszusage gegeben wird (vgl. § 305 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 BGB).
In dem zu entscheidenden Fall war allgemeine Leistungsvoraussetzung u.a. dass „das Beschäftigungsverhältnis beendet“ ist. Auch der Anspruch auf Invalidenleistung war an die besondere Voraussetzung geknüpft, wonach Dienstunfähigkeit vorliegt, wenn der Versorgungsberechtigte „nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses nicht mehr im Stande ist, eine Beschäftigung auszuüben“.
Das BAG unterwarf die in Streit stehende – nicht in einer Betriebsvereinbarung normierte – Bestimmung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Voraussetzung für den Eintritt des Versorgungsfalles Invalidität einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB, da diese Regelung vom Leitbild der Invaliditätsversorgung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG abweiche. Dabei betont das BAG die durch ständige Rechtsprechung bestätigte Entgeltersatzfunktion der betrieblichen Altersversorgung, die bei einer Invaliditätsversorgung als Ausgleich für krankheits- oder behinderungsbedingte Einkommensverluste des Arbeitnehmers vor Erreichen der Altersgrenze dient.
Anders als bislang von Vielen verstanden, stellt das BAG dabei nun eindeutig nicht (mehr) auf das Ausscheiden der versorgungsberechtigten Person aus dem Arbeitsverhältnis als wesentliches Merkmal der Invaliditätsversorgung ab, sondern knüpft allein an die Verwirklichung des abgesicherten Risikos an. Die Risikoübernahme muss nach dem BAG dabei in einer Versorgung bestehen, wobei der Begriff der Versorgung weit auszulegen sei.
Durch Invalidität bedingter Einkommensverlust auch bei ruhendem Arbeitsverhältnis
Der Arbeitgeber ist dabei darin frei, die Voraussetzungen der Invaliditätsversorgung selbst zu bestimmen. Allerdings ist nach Ansicht des BAG die Vertragstypik dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zu entnehmen. Das BAG führt dabei aus, dass nur „soweit sich die vom Arbeitgeber definierten Anspruchsvoraussetzungen darauf richten, ein Risiko von der Art, wie es auch in der gesetzlichen Rentenversicherung definiert ist, abzusichern“, diese sich im Rahmen der Vertragstypik halten würden. Schränke „der Arbeitgeber die Zusage einer Invaliditätsversorgung abweichend von dieser Vertragstypik zulasten des Versorgungsberechtigten ein, so unterliegt diese Einschränkung der Angemessenheitskontrolle nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB“.
Dabei stellt das BAG folgenden Prüfungsmaßstab in den Fokus: „Entscheidend für die Invaliditätsversorgung nach dem Betriebsrentengesetz ist folglich die Absicherung der an biologische Risiken und die sich daraus ergebenden körperlichen Einschränkungen gebundene Gefahr des Einkommensverlustes.“
Das Gericht kommt folglich zu dem Ergebnis, wonach Allgemeine Geschäftsbedingungen bzw. Versorgungsregelungen, in denen Voraussetzung für den Bezug einer Dienstunfähigkeitsrente die vorherige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist, diese Vertragstypik einschränken, da unabhängig von der rechtlichen Beendigung oder dem Ruhendstellen des Arbeitsverhältnisses, mit Wegfall des Anspruchs auf Arbeitsentgelt ein gesundheitlich bedingter Einkommensverlust eintrete.
Dieses Risiko abzusichern, sei vertragstypischer Zweck der Invaliditätsversorgung nach dem Betriebsrentengesetz, so das BAG. Machten Versorgungsregelungen den Eintritt des Versorgungsfalles Invalidität davon abhängig, dass zuvor das Beschäftigungsverhältnis des Versorgungsberechtigten beendet sein muss, weichen die allgemeinen Vertragsbedingungen des Versorgungsträgers von der Vertragstypik der betrieblichen Invaliditätsversorgung i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG ab.
Im Rahmen der Abwägung der bei § 307 ff BGB zu berücksichtigenden Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers, sieht das BAG die Interessen des Versorgungsberechtigten, nämlich die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Versorgungsberechtigten und das dabei geschützte Interesse am Erhalt seines Arbeitsplatzes bei Anwendung der Klauseln gefährdet – was eine Unwirksamkeit der Klausel zwingend erscheinen lasse. Das BAG führt dabei aus, dass bei Anwendung der Klausel, der Arbeitnehmer dem Zwang unterliegen würde, zunächst sein Arbeitsverhältnis aufzugeben, um sich dadurch überhaupt die Chance auf eine Invaliditätsversorgung zu eröffnen. Dies führe letztlich zu einem unzumutbaren Druck auf den Versorgungsberechtigten und zum Überwiegen seiner Interessen gegenüber denen des die Versorgung zusagenden Arbeitgebers.
Ergänzende Auslegung wegen unzumutbarem Ergebnis aufgrund Vertrauen auf Rechtsprechung
Obwohl der vom BAG festgestellte Verstoß gegen § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB zur Folge gehabt hätte, dass die Einschränkung der Versorgungszusage auf Invalidenrente durch das Erfordernis einer vorherigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses unwirksam ist, kam das BAG durch eine ergänzende Vertragsauslegung im zu entscheidenden Fall nicht zu einer vollen, sondern nur teilweisen Unwirksamkeit der Klausel.
Eine solche ergänzende Vertragsauslegung ist nach Ansicht des BAG dann geboten bzw. jedenfalls möglich, wenn der Arbeitgeber nicht auf andere Weise vor Doppelansprüchen versorgungsberechtigter Arbeitnehmer geschützt wäre und diese Doppelbeanspruchung unzumutbar wäre. Im zu entscheidenden Fall stützte das BAG die Unzumutbarkeit insbesondere darauf, dass das Erfordernis einer vorherigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch bei der Invaliditätsrente bislang von der Rechtsprechung grundsätzlich gebilligt wurde.
Das BAG folgerte im zu entscheidenden Fall daraus, dass eine rückwirkende Zahlung der Invalidenrente trotz bestehendem Arbeitsverhältnis nur geboten sei, sofern die Feststellung der Invalidität vom Versorgungsträger unangemessen verzögert wurde. Im Übrigen stehe aufgrund der ergänzenden Vertragsauslegung das bestehende Arbeitsverhältnis der rückwirkenden Auszahlung entgegen.
Handlungsbedarf besteht jedenfalls bei Neuzusagen
Da das BAG bei dem entschiedenen Fall im Rahmen der ergänzenden Auslegung der Versorgungsregelung auf die bislang anderslautende Rechtsprechung verwiesen hat – ist zu erwarten, dass zwar zukünftig Klauseln in einseitig vom Arbeitgeber vorgegebenen Versorgungsregelungen unwirksam sind, die den Eintritt des Versorgungsfalles Invalidität an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses knüpfen. Allerdings könnte im Rechtsstreit erwirkt werden, dass vor dem 2021 ergangenen BAG-Urteil erteilte Versorgungszusagen ähnlich ergänzend ausgelegt werden.
Jedenfalls bei der Neugestaltung von Versorgungsordnungen sollte zukünftig von der Koppelung des Versorgungsfalles Invalidität an das „Ausscheiden aus dem Unternehmen“ oder an die „Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses“ verzichtet werden.
BAG vom 13.07.2021, 3 AZR 445/20: Dauerhafte Invalidität auch bei befristeter gesetzlicher Rente
Mit einer ebenfalls am 13.07.2021 ergangenen Entscheidung des BAG, 3 AZR 445/20, gibt dieses eine weitere Auslegungshilfe bei der Beurteilung der Frage, ob der Versorgungsfall Invalidität vorliegt. Dies wird häufig dann bezweifelt, wenn die gesetzliche Invalidenrente nur befristet beschieden wird und in Versorgungszusagen eine „dauernde“ oder gar „unbefristete Erwerbsminderung“ als Voraussetzung der betrieblichen Invaliditätsleistung gesehen wird.
Das BAG hat in einer Entscheidung klargestellt, dass die nur befristete Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung einem Anspruch auf betriebliche Invaliditätsversorgung nicht entgegensteht, wenn die Versorgungszusage vorsieht, dass „bei Eintritt einer voraussichtlich dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts“ eine monatliche Invalidenrente gezahlt wird.
Dass die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nur befristet bewilligt werde, sei unschädlich, weil die Befristung der gesetzlichen Rente sich aus den §§ 99 ff. SGB VI ergebe - also bloßer Verfahrensvorschriften, die nicht den von der Versorgungszusage aufgegriffenen Begriff der dauernden völligen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des Sozialversicherungsrechts definierten.
Damit ist jedenfalls für Versorgungsregelungen, die eine „dauernde Erwerbsminderung“ als Leistungsvoraussetzung vorsehen, höchstrichterlich geklärt, dass diese auch bei befristet gewährten gesetzlichen Erwerbsminderungsrenten anzunehmen ist. Ob dies auch bei Versorgungsreglungen gilt, die den Versorgungsfall Invalidität, davon abhängig machen, dass die gesetzliche Erwerbsminderungsrente unbefristet gewährt wird, ist damit allerdings nicht gesagt und eher fraglich, da hier der eindeutige Wortlaut der weiten Auslegung nach den für Allgemeine Geschäftsbedingungen geltenden Regeln entgegensteht. Da diese nach §§ 305 ff BGB geltenden Auslegungsregeln bei Betriebsvereinbarungen nicht zu beachten sind, kann zudem nicht vorhergesagt werden, ob die hier erläuterten Auslegungshilfen des BAG auch bei aufgrund Betriebsvereinbarung zugesagten betrieblichen Invalidenleistungen beachtet werden können bzw. müssen.